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Guy Debord
Einführung in eine Kritik der städtischen Geographie
Was uns an allen Geschehnissen an denen wir mit oder ohne Interesse teilnehmen,
immer wieder zu Fesseln vermag, ist einzig die fragmentarische Suche nach einer
neuen Lebensweise. Die größte Gleichgültigkeit gegenüber einigen Disziplinen
ästhetischer oder anderer Art, deren dies bezügliche Unzulänglichkeit
unmittelbar festzustellen ist ist selbstverständlich Man müßte also
provisorische Beobachtungsgebiete bestimmen - unter ihnen die Beobachtung
bestimmter Vorgänge auf den Straße aus dem Bereich des Zufalls und des
Voraussehbaren.
Das von einem gebildeten Kabylen vor geschlagene Wort " Psychogeographie " zur
Bezeichnung de gesamten Phänomene, mit denen wir uns gegen Sommer 1953 befaßten,
ist nicht allzu schlecht gewählt. Es bleibt innerhalb der materialistische
Perspektive einer Konditionierung des Lebens und des Denkens durch die objektive
Natur. Zum Beispiel gibt die Geographie Aufschluß über die bestimmende Wirkung
allgemeiner Naturkräfte - wie die Zusammersetzung des Bodens oder die
Klimatischen Verhältnisse - auf die wirtschaftliche Struktur einer Gesellschaft
und damit auch auf ihre Weltanschauung. Die Psychogeographie würde sich die
Erforschung der genauen Gesetze und exakten Wirkungen der gegebenen oder bewußt
eingerichteten, direkt auf das Gefühlsverhalten des Individuums einwirken den
geographischen Umwelt zur Aufgabe machen. Das Adjektiv psychogeographisch,
dessen Unbestimmtheit uns sehr willkommen ist, läßt sich also auf die durch
diese Art von Forschungen festgestellten Angaben anwenden, auf die Resultate
ihres Einflusses auf die menschlichen Gefühle und sogar noch allgemeiner auf
jede Situation oder jedes Verhalten, die zum selben Entdeckungsgeist zu gehören
scheinen.
Vor langer Zeit hat man bereits sagen können, die Wüste sei monotheistisch. Wird
man nun die Feststellung, das sich zwischen dem Place de la Contrescarpe und der
Rue de l' Arbalète erstreckende Pariser Viertel neige mehr zum Atheismus, zum
Vergessen und zur Desorientierung der gewöhnlichen Reflexe, unlogisch oder
uninteressant finden? Es ist gut, einen historisch relativen Begriff des
Nützlichen zu haben. Der von Napoleon III. angenommene Plan zur Verschönerung
der Stadt Paris diente ursprünglich der Sorge, über freie Räume zu verfügen, die
schnelle Truppenbewegungen und den Einsatz von Artillerie gegen Aufstände
ermöglichen sollten. Aber abgesehen von diesem einzigen polizeilichen
Gesichtspunkt ist das Paris von Haussmann eine Stadt voll sinnlosem Lärm und
Gedränge, die von einem Idioten erbaut wurde. Heute liegt das größte, vom
Urbanismus zu lösende Problem in der Herstellung guter Verkehrsmöglichkeiten für
eine schnell wachsende Anzahl von motorisierten Fahrzeugen. Man darf wohl
annehmen, daß ein zukünftiger Urbanismus sich um gleichzeitig nützliche
Konstruktionen bemühen wird, die den psychogeographischen Möglichkeiten
weitgehend Rechnung tragen.
Im übrigen ist der aktuelle Überfluß an Personenwagen nichts anderes als das
Ergebnis der ständigen Propaganda, mit der die kapitalistische Produktion die
Masse überzeugt - und das ist einer ihrer verblüffendsten Erfolge -, daß der
Besitz eines Autos gerade zu den Vorrechten zählt, die unsere Gesellschaft ihren
privilegierten Mitgliedern reserviert. (Da der anarchische Fortschritt sich
selbst verleugnet, kann man genießerisch zusehen, wie ein Polizeipräfekt die
Pariser Autobesitzer durch Kino anzeigen zum Gebrauch der öffentlichen
Verkehrsmittel ermuntert.)
Da man schon bei so geringfügigen Anlässen auf die Vorstellung des Privilegs
stößt, und da man weiß, mit welch blinder Wut so viele - und doch so wenig
privilegierte - Leute bereit sind, ihre dürftigen Vorteile zu verteidigen, muß
man feststellen, daß all diese Einzelheiten zu einer Vorstellung vom Glück
gehören, wie sie in der Bourgeoisie gültig ist, die durch ein Reklame System
aufrechterhalten wird, das Malrauxs Ästhetik wie auch die Imperative von Coca
Cola umfaßt und deren Krise es beijeder Gelegenheit und mit allen Mitteln zu
provozieren gilt.
Die nächstliegenden Mittel sind ohne Zweifel die in der Absicht einer
systematischen Provokation durch Geführte Verbreitung von zahlreichen
Vorschlägen mit dem Ziel, aus der Leben ein globales, Leidenschaftlich
aufregendes Spiel zu machen, sowie die ständige Entwertung aller gebräuchlichen
Unterhaltungen, in der Maße natürlich, wie sie nicht dazu zweckentfremdet werden
können, Konstruktionen interessanterer Stimmungen zu dienen. Allerdings liegt
die größte Schwierigkeit eines solchen Unternehmens darin, in diese scheinbar
schwärmerischen Vorschläge die ausreichende Menge ernsthafte Anreizes zu
bringen. Eine geschickte Anwendung der gegenwärt beliebten Kommunikationsmittel
läßt sich als Möglichkeit denken, zu diesem Resultat zu gelangen. Aber ebenso
sorgen auch eine Art auffällger Enthaltung, oder auf die radikale Enttäuschung
der Liebhaber eben dieser Kommunikationsmittel abzielende Manifestationen mit
geringem Aufwand für eine Atmosphäre des Unbehagens, die für die Einführung
einiger neuer Begriffe der Begierde sehr günstig ist. Der Gedanke, daß die
Realisierung einer ausgewählten Gefühlssituation einzig von der genauen Kenntnis
und der überlegten Anwendung einer bestimmten Anzahl konrkreter Mechanismen
abhängt, lag diesem "Psychogeographischen
Spiel der Woche" zugrunde, das immerhin mit etwas dazugehörigem Humor in der
ersten Nummer der Zeitschrift "Potlatch" veröffentlicht wurde:
"Je nach dem, was Sie suchen, wählen Sie eine Gegend, eine mehr oder weniger
dicht bevölkerte Stadt, eine mehr oder weniger belebte Straße. Bauen Sie ein
Haus. Richten Sie es ein. Holen Sie das Beste aus seiner Aufmachung und Umgebung
heraus. Wählen Sie Jahreszeit und Stunde. Bringen Sie die geeignetesten Personen
sowie die passenden Platten und alkoholischen Getränke mit. Beleuchtung und
Konversation wie auch die äußere Atmosphäre oder Ihre Erinnerungen müssen
selbstverständlich den Umständen entsprechen.
Wenn Sie keinen Fehler in Ihrer Rechnung gemacht haben, muß das Ergebnis Sie
zufriedenstellen."
Wir müssen uns damit beschäftigen, massenweise Begierden auf den Markt zu werden -
und sei es momentan auch nur auf den intellektuellen -, deren Fülle nicht die
aktuellen Einwirkungskräfte des Menschen auf die materielle Umwelt, sondern die
alte gesellschaftliche Organisation überschreiten wird. Folglich entbehrt es
nicht des politischen Interesses, derartige Begierden den primären
entgegenzusetzen, die begreiflicherweise in der Filmindustrie oder auch in den
sogenannten psychologischen Romanen, wie etwa denen des alten Schind Luders
Mauriac, endlos wiedergekäut werden. ("In einer auf die Armut gegründeten
Gesellschaft haben die elendsten Produkte das fatale Vorrecht, der Mehrheit zum
Gebrauch zu dienen", erklärte Marx dem armen Proudhon. )
Die revolutionäre Umgestaltung der Welt - aller Aspekte der Welt wird allen
Ideen des Überflusses recht geben. Der plötzliche Stimmungswechsel auf einer
Straße in einer Entfernung von nur wenigen Metern; die offensichtliche
Aufteilung einer Stadt in einzelne, scharf unterscheidbare psychische
Klimazonen; die Richtung der stärksten Gefälle (ohne Bezug auf den
Höhenunterschied), der alle Spaziergänger ohne bestimmtes Ziel folgen müssen;
der anziehende oder Abstossende Charakter bestimmter Orte all dies wird
scheinbar nicht beachtet, jedenfalls wird es nie als abhängig von den Ursachen
betrachtet, die man durch eine tiefgreifende Analyse aufdecken und sich zunutze
machen kann. Zwar weiß man, daß es trübsinnige und angenehme Stadtviertel gibt.
Man bildet sich aber gewöhnlich fast ohne jede weitere Nuancierung ein, daß die
eleganten Straßen ein Gefühl der Zufriedenheit vermitteln, während die ärmlichen
deprimierend wirken. In Wirklichkeit aber hat die Vielfalt der möglichen
Stimmungskombinationen - analog der Auflösung der chemisch reinen Körper in die
endlose Zahl von Gemischen ebenso differenzierte wie komplizierte Gefühle
zufolge, wie diejenigen, die jede andere Art des Anblicks auslösen kann. Und die
geringste entmystifizierte Forschung macht sichtbar, daß zwischen den Einflüssen
der verschiedenen, in einer Stadt errichteten Szenerien keine Unterscheidung,
sei sie qualitativ oder quantitativ, von einer Epoche oder einem Baustil aus
formuliert werden kann und noch weniger von den Wohnbedingungen.
Die Forschungen, zu denen man hierdurch gebracht wird, sehen die Disposition der
Bestandteile des urbanistischen Rahmens in enger Verbindung mit den von ihnen
hervorgerufen en Empfindungen und setzen unvermeidlich kühne Hypothesen voraus,
die ständig im Lichte der Erfahrung durch Kritik und Selbstkritik zu korrigieren
sind.
Bestimmte, deutlich aus architektonischen Eindrücken hervorgegangene Bilder von
Chirico vermögen eine Rückwirkung auf ihre objektive Basis auszuüben, die bis zu
deren Verwandlung gehen kann: sie tendieren dazu, selbst Entwürfe zu werden.
Unheimliche Arkadenviertel könnten eines Tages die Anziehungskraft dieses Werkes
weiterführen und vollenden.
Ich kenne kaum etwas anderes, dessen Schönheit es den in Paris angeschlagenen
Metroplänen gleichtun könnte, als die zwei im Louvre ausgestellten Häfen in der
Abenddämmerung von Claude Lorrain, die die genaue Grenze zweier städtischer
Stimmungen darstellen, die so verschieden sind, wie man es sich nur vorstellen
kann. Man wird verstehen, daß ich hier keine plastische Schönheit meine - die
neue Schönheit kann nur die einer Situation sein -, sondern lediglich die in
beiden Fällen besonders ergreifende Darstellung einer Summe von Möglichkeiten.
Unter verschiedenen schwierigeren Interventionsmitteln erscheint eine erneuerte
Kartographie zur unmittelbaren Ausnützung geeignet.
Die Herstellung psychogeographischer Karten oder sogar die Anwendung
verschiedener Fälschungen wie etwa eine - mehr oder weniger begründete oder
vollkommen willkürliche - Gleichsetzung zweier topographischer Darstellungen
können dazu beitragen, bestimmte Ortswechsel zu erklären, die den Charakter
nicht gerade der Unmotiviertheit, aber der vollkommenen Nichtbefolgung der
gewöhnlichen Anregungen haben. Anregungen dieser Art sind unter dem Begriff des
Tourismus verzeichnet, als populäre Droge ebenso widerlich wie Sport oder
Kaufkredit.
Ein Freund erzählte mir kürzlich, er habe anhand eines Londoner Stadtplans,
dessen Anweisungen er blindlings gefolgt sei, den Harz in Deutschland
durchquert. Diese Art Spiel ist natürlich nur ein mittelmäßiger Anfang im
Hinblick auf eine vollständige Konstruktion der Architektur und des Urbanismus,
einer Konstruktion, die eines Tages allen möglich sein wird. Inzwischen kann man
zwischen verschiedenen, weniger schwierigen Stadien der teilweisen
Verwirklichung unterscheiden, angefangen bei der einfachen örtlichen Verlagerung
der Dekorationselemente, denen wir gewöhnlich an vorbereiteten Stellen begegnen.
So hat Marien in der vorigen Nummer dieser Zeitschrift vorgeschlagen, zu einem
Zeitpunkt, an dem die Mittel der Welt nicht mehr an jene irrationalen
Unternehmen verschwendet werden, zu denen man uns heutzutage zwingt, sämtliche
Reiterstatuen aller Städte in einer einzigen öden Ebene ungeordnet
zusammenzubringen. So böte sich den Passanten - denen die Zukunft gehört - das
Schauspiel einer synthetischen Kavallerie Attacke, die man sogar dem Andenken
der größten Massenmörder der Geschichte von Tamerlan bis zu Ridgway widmen
könnte. Hier taucht eine der Hauptforderungen der heutigen Generation wieder
auf, nämlich die des erzieherischen Wertes. Tatsächlich kann man sich nur vom
Bewußtwerden der handelnden Massen von den Lebensbedingungen etwas versprechen,
die ihnen in allen Bereichen auferlegt werden, sowie von den praktischen
Mitteln, diese Bedingungen zu verändern.
"Das Imaginäre ist das, was eine Tendenz zur Verwirklichung in sich trägt",
konnte ein Autor schreiben, dessen Namen ich aufgrund seiner allgemein bekannten
Liederlichkeit auf geistigem Gebiet inzwischen vergessen habe. Dadurch, daß eine
solche Behauptung etwas unabsichtlich Einschränkendes enthält, kann sie als
Prüfstein dienen und ein Strafgericht über einige Parodien einer literarischen
Revolution ergehen lassen: was die Tendenz in sich trägt, irreal zu bleiben, ist
Geschwätz.
Das Leben, für das wir die Verantwortung tragen, begegnet neben großen
Entmutigungsgründen auch einer Unzahl von Ablenkungen und mehr oder weniger
vulgären Kompensationen Es vergeht kein Jahr, ohne daß von uns geliebte Menschen
sich in irgendeine auffällige Kapitulation ergeben, weil sie die vorhandenen
Möglichkeiten nicht klar verstanden haben. Sie verstärken aber nicht das
feindliche Lager, das bereits Millionen von Schwachsinnigen zählte und in dem
man objektiv dazu verurteilt ist, schwachsinnig zu sein.
Der erste moralische Mangel bleibt die Duldsamkeit in allen ihren Formen.